19. August 2021
Die Musen und ihre Lieder II
II. Fantasiert: Frau und Amboss
Zu meiner Jugendweihe bekam ich einen Kassettenrekorder mit CD-Teil geschenkt. Jetzt konnte ich gesuchte Musiktitel nicht nur direkt vom eingebauten Radio aufnehmen, sondern auch jene geheimnisvollen Silberlinge abspielen. Ich hatte jedoch kaum Taschengeld. Somit blieb ich mit meinen Möglichkeiten vorerst auf die CD-Sonderangebote in den zahlreichen, nach dem Mauerfall neu eröffneten Elektroläden beschränkt. Die Ausbeute war mager. Dafür blühte der Schulhoftauschhandel mit raubkopierten Tonträgern üppiger denn je. Die Kopie der Kopie der Kopie wurde so oft weitergegeben und wiederum vervielfältigt, bis aller noch darauf befindlichen Musik jegliche Essenz entzogen worden war. Selbst Heavy-Metal-Aufnahmen besaßen – auf den neuen Stereoanlagen der Eltern abgespielt – somit keinerlei WUMMS mehr. Da half es auch nicht, die Lautstärke bis zur Übersteuerung aufzudrehen. Trotzdem waren wir glücklich. Es kursierten unter anderem Bänder von Bon Jovi, Mötley Crüe, Alice Cooper und Metallica. Damit hatte für mich in musikalischer Hinsicht eine neue Zeit begonnen.
Inzwischen ging ich in die 10. Klasse. Das finale Bild hinter dem transparenten Schutzumschlag meines Tagebuchs war eine Abbildung der deutschen Rockröhre Doro Pesch. Diese hatte ich in einem Szene-Musikmagazin mit den entsprechenden Schallplattenrezensionen entdeckt und sofort ausgeschnitten. Ganz im düsteren 80er-Jahre-Fantasy-Stil gemalt, stand die blonde Sängerin darauf in enger Lederkluft an einem Amboss und bearbeitete den rotglühenden Buchstaben D mit einem Schmiedehammer. Ihr vor Schweiß glänzendes Dekolleté, ihre nackten, muskulösen Arme und das feuchte, über die linke Schulter drapierte Haar vermittelten den Eindruck einer real aufgebrachten Anstrengung, die ich mit meiner latent überhitzten, darbenden Halbstarkenlibido allerdings eher in den nebulösen Regionen erotischer Interaktionen verortete, als sie mit echter Knochenarbeit an einem lodernden Höllenfeuer in Verbindung zu bringen. Die Force Majeure – die höhere Gewalt vom Albumtitel – lernte ich aber erst kennen, als ich von meinem Geburtstagsgeld die CD kaufte und endlich Doros Musik hören konnte.
Ich hatte schon einige Heavy Metal-Bands kennen gelernt, jedoch keine mit Frontfrau. Insgeheim favorisierte ich in meinen Tagträumen noch immer die Diskosirenen in ihren testbildartig bedruckten Kleidern und dem unvermeidbaren Glitzerlidschatten über den schönen, mit Kajalstift geschminkten Augen. Doro hingegen war eine Frau in Rockerkluft, die den Dämonen, die sie verfolgten, Paroli bieten konnte. Ihre Stimme war nicht nur kräftig genug, um den harten Gitarrenriffs und dem treibenden Schlagzeug ihrer Band stand halten zu können, sie forderte die Musiker geradezu heraus. Andererseits besaß ihr Gesang in balladesken Momenten eine unerwartet gefühlvolle Note; eine Zartheit freilich, die an das weiche, schwarze Fell einer Katze erinnerte. Ein elegantes, felines Wesen, das durch die Dunkelheit streifte und dabei stets bereit war, seine Krallen zu zeigen.
Als meine hektische, an vielen unterschiedlichen Orten stattfindende Berufsausbildung bei einer Tief- und Straßenbaufirma begann, sehnte ich mich nach jener Dunkelheit. Egal, wo ich mich gerade befand – auf einer regionalen Baustelle, in der Berufsschule, oder in einem nach Schweiß und Currywurst stinkenden Zugabteil –, beschworen Doro und ihre Mitmusiker über meinen Walkman eine Parallelwelt voller Engel mit schmutzigen Gesichtern, Höllenfahrern und Hexen. Nicht, dass ich mir derartige Geschöpfe wirklich vorgestellt hätte. Vielmehr war ich davon überzeugt, dass es sich bei Frau Pesch und ihren wilden Männern um Menschen handelte, die es gewohnt waren, ihren Willen zu bekommen und dabei auch noch verdammt gut auszusehen. Die Dunkelheit war ein innerer Zustand. Wenn das nächste Mal das Licht anging, wollte ich etwas anderes sehen als das, was mich gerade im Alltag umgab. Keine Kanalisationsrohre, keine Bauwagen, keine Schulbänke. Ein alter Zauberer mit seinen Beschwörungsformeln wäre mir tausendmal lieber gewesen als der schnauzbärtige Vorarbeiter, der mir jeden Morgen mit einem süffisanten Grinsen im Gesicht unterstelle, dass ich garantiert so unausgeschlafen sei, weil ich wieder die ganze Nacht onaniert hatte.
Inzwischen besaß ich alle 3 CDs von Doro, außerdem die 4 Alben ihrer früheren Band Warlock. Dies war mein akustisches Rüstzeug für kalte Tage. Ich lernte ganze Texte auswendig und schleuderte sie in Gedanken der Welt entgegen. Wann immer ich mich zuhause über etwas ärgerte, sprang ich wie ein wild gewordener Derwisch durch mein Zimmer und schüttelte mein gerade erst im Wachsen begriffenes Haar, als wäre es bereits zu einer hüftlangen Mähne gewuchert. Alles, was noch nicht sichtbar in meiner Welt manifestiert war, gehörte im vom Rhythmus aufgepeitschten Sinnesrausch bereits mir. An diese Maxime klammerte ich mich so verbissen wie ein geiler Hunderüde an ein ausgestrecktes Bein.
Ein bestimmter Abend, typisch für jene Zeit... Wir residierten gerade die Woche über in einem Lehrlingswohnheim am Rande von Bitterfeld. Ein maroder Plattenbau, in dem nur noch die 12. Etage von Auszubildenden bewohnt wurde. Draußen die allgegenwärtige Industrielandschaft mit ihren beleuchteten Fabrikgebäuden, stählernen Strommasten und qualmenden Schornsteinen. Ich war gerade allein, stand mit Kopfhörern und einer filterlosen Zigarette am offenen Fenster unseres Zwei-Bett-Zimmers und sah rauchend hinunter zu dem mit frischem Pulverschnee bedeckten, erst von wenigen LKW-Spuren markierten Parkplatz des Fernfahrerimbisses. Eine flache Baracke, hinter deren vergilbten Vorhängen sich etwas Schattenhaftes im trüben Licht bewegte; der Küchenbulle, die Serviererin, vielleicht auch ein betrunkener Lastwagenfahrer kurz vor seiner Nachtruhe. Als ich das Fenster schloss, konnte ich mein Spiegelbild in der ungeputzten Glasscheibe sehen. Ein milchgesichtiges Kind, dessen Nackenhaar gerade so den Hemdkragen berührte, während ihm sein Pony vorn in die grauen Augen fiel.
Der Anblick machte mich traurig und wütend zugleich. Ich war nicht true as steel, wie Doro gerade noch gesungen hatte, nicht einmal out of control. Höchstens beyond the trees – obwohl damals kein einziger Baum im näheren Umkreis des Wohnheims wuchs. Dafür freute ich mich über meine neue Lederjacke, die auf dem Stuhl neben dem Bett hing. Sie hatte keine spitzen Nieten auf den Schulterstücken und auch keine Leopardenfell-Einnäher in den Seiten. Trotzdem – solange es die Musik gab, war alles möglich. Rare Diamonds, dachte ich, griff nach der Bierdose auf dem ramponierten Nachtschränkchen und prostete meiner Lieblingssängerin in Gedanken zu. Wenn Doro über die Liebe sang und wie schwer diese in unserer Welt zu finden war, dann klang das weder kitschig noch abgedroschen. Nicht bei dieser Stimme. Seltene Diamanten, Baby! Genau das sind wir – und nichts anderes, sagte ich in einem spontanen Anflug von Trotz zu meinem blassen, kaum noch erkennbaren Spiegelbild und fühlte mich augenblicklich getröstet. Etwas unbezwingbar Schönes wurzelte und wuchs unaufhörlich im Verborgenen; egal, ob man gerade einen Baum sah, oder nicht.07. Juli 2021
Die Musen und ihre Lieder I
Aufgenommen: Klänge und Bilder
Als die Popsängerin Sandra im Jahre 1990 ihr Erfolgslied „Hiroshima“ sang, war ich gerade ein pubertierender Träumer in der anhaltinischen Provinz. Ich saß ganze Nachmittage lang vor dem Radio in unserer Küche, den Kassettenrecorder daran angeschlossen und meinen Zeigefinger auf dessen Pausentaste. Es war Hitparadenzeit und ich hatte eine neue Musikkassette eingelegt. Wie ein hungriger Greifvogel lauerte ich auf akustische Leckerbissen für den nächsten Mitschnitt. Ich nahm auf – wie das damals hieß –, machte fernab des strahlenden Sonnenscheins Klangbeute. Dann wurde eben jene Anti-Kriegs-Hymne gespielt. Natürlich war die Interpretin für mich keine Unbekannte mehr, neu war nur, dass dieses Lied in meinem Kopf trotz seiner flehend melancholischen Vortragsweise sofort Assoziationen von Tod und Verwüstung weckte, und zwar jedes Mal, wenn ich die Aufnahme im Nachhinein anhörte. Unsere Geschichtslehrerin hatte uns während des Unterrichts einmal Augenzeugenberichte überlebender Opfer dieses verheerenden Bombenabwurfs vorgelesen. Ich erinnerte mich voller Abscheu an die Haut verstrahlter Opfer, die sich vom Fleisch ablöste und den hinzu geeilten Ersthelfern an den behandschuhten Fingern kleben blieb. Dazu die für meine Jungenohren durchaus wohlklingende Stimme Sandras. Ein mitfühlender Engel des Elends, der während einer Live-Übertragung im Fernsehen verzweifelt unter grellen Scheinwerfern inmitten eines künstlichen, zur Hälfte verbrannten Wäldchens stand, mit dramatischer Mine und geballten Fäusten.
Natürlich hatte es andere Lieder vorher gegeben, andere Sängerinnen. Oft hatten meine Schulfreunde und ich während der großen Hofpause darüber gestritten, welche von ihnen wohl am besten war: Kim Wilde, Cindy Lauper, Bonnie Bianco oder C.C. Catch. Die Schutzhüllen unserer Tagebücher zierten die entsprechenden Konterfeis. Abbildungen, die wir aus diversen BRAVO's ausgeschnitten hatten – vor dem Mauerfall eine begehrte Tauschware unter ostdeutschen Kindern und Halbwüchsigen. Aktuelle Musikkassetten – meist Raubkopien – gab es teuer bei den zahlreichen vietnamesischen Straßenhändlern auf dem Marktplatz zu kaufen. Kaum ein Zwölfjähriger konnte sich das leisten. Blieb mir nur das Aufnehmen. Das Gute daran war, dass ich allein bestimmte, welche Lieder auf mein Band kamen. Und Bänder hatte ich genug, seit mein Schulfreund Lee mit einem Schuhkarton voller zum Teil hüllenloser Kassetten unterm Arm vor meiner Tür gestanden und feierlich verkündet hatte, dass ich die alle haben könne, wenn ich dafür meine Sammlung von vielleicht zwei Dutzend Bildern von Kylie Minogue rausrücken würde. Die Hälfte der Tonträger war auf eine fast schon surreale Weise angeschmolzen. Ich nahm an, dass sie für längere Zeit auf dem Armaturenbrett eines Autos gelegen hatten, das ausschließlich durch brütend heiße ungarische Sommer gefahren war. Doch hätte ich – abgesehen von jenen verformten Fundstücken, die aus einem Gemälde von Salvador Dalí hätten stammen können –, noch immer ein gutes Geschäft gemacht. Lee und ich wurden uns einig.
Das von mir in diesem Zusammenhang imaginierte Bild würde den Titel „Flüchtiger Klang im Nirgendwo“ tragen. Darauf wäre keine für den spanischen Maler sonst so typische Wüste, sondern eine sonnenverbrannte, von weitläufigen Feldwegen durchzogene Wiesenfläche zu sehen. Am Horizont eine Bergbau-Abraumhalde samt Förderband. Im Vordergrund ein kahler, silbrig glänzender Metallstrauch, in dessen filigranen Zweiggebilden die schmelzenden Kassetten hängen wie gerade aufplatzende, ihre Bandsalatfüllung preisgebende Käse-Teig-Plätzchen. Am linken Bildrand schließlich ein Wesen – halb Jüngling, halb Geier; sein Vogelkopf auf dem langen nackten Hals aus dem Hemdkragen hinaus in Richtung des Strauchs blickend. Was bei näherem Hinsehen von den Tonträgern aufsteigt, ist ein sich in der Windstille kräuselnder, ätherischer Rauch. Ein Dunst, der während seines Entfliehens für wenige Sekunden nach erkennbaren Formen in der Atmosphäre greift; nach Augen, Mündern, der Kontur eines Wangenknochens, einer auftoupierten, bauschigen Haarpracht, einem ausrasierten Frauennacken. Ein fiebrig halluzinierter Diskobaum für den schnabelbewehrten Halbstarken in seinen ausgebeulten Schneejeans.16. Juni 2021
Der Auftakt zu etwas Neuem... subTHIELEkunst?
Schweigen ist nichts weiter als ein zögerliches Gedicht...
Dieses Schweigen kann unbeschadet die Jahre überdauern. Es spielt im Verborgenen mit seinen Möglichkeiten, wägt einzelne Variationen seiner selbst ab. Wenn es sich entscheidet, Wort zu werden, hat es vielleicht mehrmals den gesamten Zyklus der Jahreszeiten durchlaufen – oder auch nur die Zeitspanne, welche ein Leser braucht, um eine Buchseite umzublättern.
Im Falle von mir und meiner Arbeit handelt es sich wohl eher um eine zyklische Aneinanderreihung von Jahreszeiten. Lange ist es her, dass ich meine Bücher veröffentlicht habe – was nicht heißt, dass in der Zwischenzeit keine Texte entstanden sind. Aktuell arbeite ich an einem neuen Lyrik-Band, einer zweiten Kurzgeschichtensammlung und an meinem ersten Roman.
Die Kunst ist nicht nur ein Teil des Wortspiels meines Netzseitennamens. Schon als Junge habe ich nahezu pausenlos Geschichten in Schulhefte geschrieben und ständig Bilder gezeichnet. Mein Vater hat mich in den Sommerferien gerne neckend einen „Quarklöffel“ genannt, weil meine blasse Haut einfach keine Sonnenbräune annehmen wollte. Und das, obwohl ich damals zusammen mit meiner eingeschworenen Freundesbande durchaus einige phantastische Abenteuer unter freiem Himmel erlebt habe. Abseits dessen glich ich mich jedoch immer mehr jenem vermeintlichen Juliphantom an, welches wir mit unseren entrindeten Weidenruten durch die Büsche an der Pferdekoppel zu jagen glaubten. Sicher war jene oft umdefinierte Gestalt so blass um die Nase wie ich selbst. Ob sie wohl auch in der Dunkelheit hockte und sich haarsträubende Geschichten ausdachte? Der Geist eines Wegelagerers, der gedankenversunken in einem Schulheft blättert...
Aus den Schulheften wurde erst Schreibmaschinen- und dann Druckerpapier. Das Schreiben blieb mir treu – egal, ob zur Wendezeit im anhaltinischen Sangerhausen, oder ab dem Jahr 2000 in Leipzig. Seit 2003 bin ich freier Autor. Es folgten drei Buchveröffentlichungen: das inzwischen vergriffene VIOLETTE BRANDUNG, dann AUF DEM SALAMANDERPFAD und SCHLECHTE ZEITEN FÜR SCHNEEWITTCHEN. Ich habe Lesungen meiner Texte in Kirchen, Kneipen, Hinterzimmern, Privatwohnungen, auf Burgruinen und Festivalbühnen abgehalten. Nun, nach längerer schöpferischer Pause, präsentiere ich meiner Leserschaft etwas Neues.
Seit nunmehr fast 30 Jahren bin ich passionierter Filmfreund und leidenschaftlicher Musikhörer. Dass beides bisweilen ins Obsessive ausartet, soll der Schaden von Leserin und Leser nicht sein. Ab sofort ist subTHIELEkunst nicht mehr nur der Name dieser meiner Netzpräsentation, sondern – im weitesten Sinn – ein offenes Programm. Unter der Rubrik „Betrachtungen“ verfasse ich ab sofort unter anderem Berichte und Prosastücke zu Themen wie Film (Autorenkino, Buchverfilmungen, Horror- und Gruselstreifen), Musik (Schwerpunkt: Americana/Country, Doom-Metal, Hard & Heavy, Pop, Liedermacher) und Literatur (Southern Gothic, Klassiker der Literaturgeschichte, postmoderne Lyrik, dunkle Fantastik). Dabei gibt es eine Regel: Ich schreibe ausschließlich über die Kunst in all ihren Erscheinungsformen, wenn sie mir gefällt – mich seelisch erbaut, kathartisch erschüttert oder zumindest nachhaltig berührt. Ich sehe mich als leidenschaftlichen Enthusiasten, der seinen Lesern etwas Bestimmtes nahe bringen möchte, ohne es erklären oder gar bewerten zu müssen. Das Kritisieren überlasse ich getrost den Kritikern.
Atmosphäre, Geheimnis, Abgründigkeit, Tragik, Komik, Melancholie, Surrealismus, Symbolik, Mystik, Schönheit – diese Substantive charakterisieren fast alles, womit ich mich täglich als Künstler und als Mensch beschäftige. Nichts-desto-trotz bleibt die ein oder andere Banalität zur Erledigung übrig. Bruder Esel – so soll Franz von Assisi einmal die sterbliche menschliche Hülle genannt haben – fordert seinen Tribut. Deshalb gibt es hier ab sofort die Möglichkeit, für mich und mein künstlerisches Schaffen zu spenden. Mehr darüber ist über die Schaltfläche Kontakt/Spenden nachzulesen.
Was immer ich für dieser Seite auch schreiben werde – Gedichte, Kolumnen oder Traumfragmente – ich behalte mir die Freiheit vor, hin und wieder in das kreative, sich selbst sammelnde Schweigen zurückzukehren. Hoffentlich nur so lange, wie der Geist eines Wegelagerers braucht, um eine Schulheftseite umzublättern.